…und das Biest: Sea-Dweller Deepsea (2008)
Hätte man die Aufenthaltszeit gemessen, die Besucher an der Baselworld 2008 vor der Vitrine der Deepsea verbrachten, oder hätte man die durchaus kontroversen Blog-Posts über die Uhr gezählt, die Forenbeiträge, Suchabfragen oder ganz einfach die veröffentlichten Pressemitteilungen zu Rolex‘ neuem Taucheruhren-Flaggschiff ausgewertet, so würde es vermutlich nicht überraschen, wenn die Sea-Dweller Deepsea statistisch belegbar allen anderen Neuheiten die Show gestohlen hätte.

Aber auch ohne wasserdichte Beweise ist es nicht vom Handgelenk zu weisen, dass nur wenige andere Uhrenneuheiten dermassen viel (spürbare) Resonanz im Jahr 2008 hervorzurufen vermochten, wie das neue Tauchgewicht aus Genf – ein Interesse, das selbst ausserhalb der rein Uhren-fokussierten Szene noch zu registrieren war.
Was also war passiert?
Gefangen in der eigenen Historie
Während Rolex die ersten Jahrzehnte seiner Firmengeschichte stark unter den Titel „Innovation“ stellte, lassen sich die letzten Jahrzehnte wohl eher mit den Stichworten „Konservierung der eigenen Tradition“ zusammenfassen. Warum, liegt auf der Hand: Rolex‘ Leistungsausweis war und ist gigantisch: Beispielsweise als Pionier in der Entwicklung der wasserdichten Uhr, des automatischen Aufzugs, als Mitbegründer der bis heute gültigen Charakteristik der Taucheruhr oder als Erbauer einer bis heute ungeschlagenen Rekorduhr, die höchstpersönlich an die tiefste Stelle der Erde getaucht war, gab es für Rolex wahrlich wenig Gründe, eine Hektik bei der Modell-Evolution an den Tag zu legen.
Beschränkt man sich nur schon auf den Taucheruhren-Bereich, hat Rolex genau das erreicht, wovon andere Hersteller bis heute mehrheitlich träumen: Man hatte nicht nur alle Rekorde gebrochen, sondern seit über 50 Jahren schlicht und ergreifend das „perfekte“ Produkt im Angebot. Eine Ikone also, die eine praktisch einmalige Akzeptanz bei Profis, Amateuren und Luxus-Schwimmern gleichermassen genoss und geniesst.
Mit anderen Worten: Einerseits bestand kein wirklicher Grund, etwas zu verändern, was grundsätzlich bereits perfekt zu sein schien. Und somit barg der Ausbruch aus der eigenen Tradition andrerseits wohl stets mehr Risiken als Chancen. Denn nicht nur für Sammler der Marke bedeutete die (vielerorts schmerzlich vermisste) fast schon stoische Konstanz in der Modellpflege eine wunderbare Adresse für Verlässlichkeit.
Evolutionstheorie
Selbstverständlich wurden auch die Rolex-Taucheruhren-Modelle laufend verändert; aber im Vergleich zu anderen Herstellern stets so dezent, dass es dem durchschnittlichen Kunden vermutlich nicht einmal auffiel: 1954 beispielsweise, ein Jahr nach Lancierung der Submariner, wuchs die Wasserdichtheit von 100 auf 200 Meter an. 1959 folgte dann ein auf 40mm vergrössertes Gehäuse; und – um auch noch die Geschichte des hier vorgestellten Modells kurz anzureissen – um 1967 erschien mit dem optisch sehr ähnlichen Schwestermodell die „Sea-Dweller“, eine Taucheruhr mit Heliumventil, speziell geschaffen für die zunehmend professionalisierte Tauchindustrie.
Auch bei diesem Modell waren die Weiterentwicklungen eher konservativ geprägt: Ein paar Jahrzehnte später erhielt die Sea-Dweller um 1980 endlich eine Wasserdichtheit von über 1000 Meter (die erste bis zu dieser Tiefe dichte Uhr wurde übrigens schon um 1963/64 lanciert). Danach folgten so bahnbrechende Neuheiten wie beispielsweise die fehlenden Bohrungen an den Bandanstössen oder Gravuren auf dem Rehaut, während bei der Konkurrenz schon längst mehr oder weniger sinnvolle Hightech-Lösungen auf der ganzen Linie Einzug gehalten hatten.
Selbstverständlich war und ist die etwas in die Jahre gekommene Sea-Dweller (und auch die Submariner) ein höchst zuverlässiges Produkt für den Einsatz im Wasser, aber man kam und kommt nicht umhin festzustellen, dass nicht mehr alle Detaillösungen auf der Höhe der Zeit waren respektive eben sind.
Oder um einen ziemlich Arten-fremden Vergleich zu bemühen: So wie gewisse englische Geländewagen oder Wachsjacken, amerikanische Benzinfeuerzeuge oder Mundspülungen oder auch gewisse deutsche Brotaufstrich-Gläser nicht unbedingt als „State of the Art“ resp. als nicht mehr auf der Höhe der Zeit gelten können, so ist der Mythos und die Qualität des entsprechenden Produktes doch gross genug, um als Konsument mit dem Gebotenen in der Regel mehr als zufrieden zu sein. Im Prinzip ähnlich verhält es sich mit der Sea-Dweller; und es gab ja auch stets die passende Erklärung, weshalb beispielsweise ein hohles Bandmittelglied eigentlich höchst sinnvoll und eine Alu-Drehringeinlage ungemein praktisch waren.
Revolutionsführer
Was nun im Jahr 2008 relativ unerwartet der Öffentlichkeit präsentiert wurde, hat damit aber herzlich wenig zu tun: Mit einem mehr als bewundernswerten Erneuerungswillen hatte sich Rolex in aller Verschwiegenheit aufgemacht, einerseits mit allem aufzuräumen, was bislang im eigenen Taucheruhren-Segment verfügbar war, ohne andrerseits die eigenen Wurzeln aus den Augen zu verlieren. Soviel vorneweg: Die eigentlich unlösbare Aufgabe wurde mit Bravour gelöst.
Sie verlangte von den Konstrukteuren aber zuerst eine Abkehr vom Bestehenden: Die Rolex Oyster Perpetual Sea-Dweller Deepsea hat mit ihrer kleinen Schwester eigentlich nichts und doch eben alles gemein:
Die Reinkarnation
Der neue Namenszusatz, die längere Referenz-Nummer (aktuell 116660), der von 40 auf 43mm angewachsene Durchmesser, die um 3.16mm gesteigerte Bauhöhe, 70g mehr Kampfgewicht, das massive Band mit neuer Schliesse, die vergrösserten Weissgold-Indexe und -Zeiger, das dickere Saphirglas, die Keramik-Einlage, die massiv gesteigerte Wasserdichtheit auf 3900 Meter oder auch der höhere Verkaufspreis listen die augenscheinlichsten Unterschiede zwar auf, zeichnen aber dennoch ein unvollständiges Bild von dem, was sich tatsächlich geändert hat: Die Deepsea ist mit der Sea-Dweller nur noch oberflächlich zu vergleichen. Es handelt sich schlichtweg um eine völlige Neukonstruktion und zum Teil auch Neu-Interpretation des Themas:
Ringlock, Triplock, Glidelock & Co.
An erster Stelle bei der Entwicklung einer Taucheruhr stand und steht die zuverlässige Abdichtung des Werks (und somit der Funktion) vor Wasser. Rolex‘ Konzept von Gewindeboden und verschraubbarer Krone unter dem Namen „Oyster“ war schon relativ früh in der Lage, diese Aufgabe zuverlässig und glaubhaft zu meistern. Und im Prinzip hat sich diese Bauweise in all den Jahrzehnten kaum verändert: Oben ein Glas, in der Mitte das Gehäuse, unten der Boden, wahlweise auch fest als Monobloc mit dem Gehäusemittelteil verbunden. Ein bewährtes Konzept für jede Lebenslage also, und je nach gewünschter Wasserdichtheit konnten die Elemente Glas, Mittelteil und Boden entsprechend verstärkt, sprich vergrössert werden. Einzige Limitierung: Die Grösse der Uhr, die selbst in Zeiten des Grössenwahns irgendwann eine natürliche (Handgelenks-)Grenze erreicht.

Im Falle der Rolex Deepsea galt es, bei möglichst zivilen Massen ein Maximum an Dichtheit zu erreichen. Und das scheint geglückt: Die am 30.4.08 zum Patent angemeldete Lösung namens „Ringlock“ (EP 1916576A1) verteilt den Druck unter Wasser optimal um (respektive neu) auf verschiedene Elemente: Das über 5mm dicke, bombierte (endlich!) Saphirglas ruht nicht etwa klassisch auf dem Stahl-Gehäuse (904L), sondern auf einem Kompressions-Innenring aus Stahl (Biodur 108), der in Kombination mit dem über 3mm dicken Gehäuseboden (Titan Grade 5) und dessen Haltering (Stahl 904L) einen Grossteil des Drucks vom umliegenden Gehäuse nimmt (im Prinzip die Perfektionierung des alten, eingepressten Sea-Dweller Rehauts – nur hier bis runter zum Gehäuseboden). Das Resultat: Das Aussen-Gehäuse muss „nur“ den flächenmässig verkleinerten Druck aufnehmen, während die Innenkonstruktion den Löwenanteil der Kräfte stemmt.
Diese nicht nur werbetechnisch clevere Konstruktion des Gehäuses in Kombination mit unterschiedlich harten respektive biegfähigen Werkstoffen führt dazu, dass die Sea-Dweller Deepsea offiziell und mit Garantie bis 3900 Meter Tiefe wasserdicht bleibt, und zudem über eine „Reserve“ bis knapp 4900 Meter verfügt (das von der französischen Comex für die Deepsea entwickelte Prüfgerät geht genau genommen bis 4875 Meter). In jedem Fall bedeutet es aber, dass die Deepsea in ihrem Geburtsjahr die wasserdichteste mechanische Uhr in Serienfertigung darstellte. Und berücksichtigt man dabei, dass dies mit vergleichsweise moderaten 43mm Durchmesser und knapp 18mm Bauhöhe gelungen ist, kann man eigentlich nur eines: den Hut ziehen.
Eine weitere Neuheit findet sich in Form der Schliesse – die starre Konstruktion einer herkömmlichen Tauchverlängerung am Stahlband führt normalerweise dazu, dass die Uhr a) nur knapp über einen Neoprenanzug passt und b) nicht mehr satt sitzt, wenn sich in unterschiedlichen Tiefen der Handgelenksumfang verändert. Rolex hat mit der als Glidelock bezeichneten Schliesse nun à la Marinemaster eine Konstruktion aus der Schublade gezaubert, die sich immerhin variabel in zehn 1.8mm-Schritten auf 18mm Länge ausziehen lässt (das mit dem Zurückschieben geht dann aber nur bei geöffneter Sicherheitsschliesse und Arretierung – eher nicht empfehlenswert unter Wasser). In Kombination mit der bewährten Fliplock-Schliesse kann nun ein stattlicher Bereich abgedeckt werden – definitiv genug Verlängerung, um den grössten Teil der Taucher zufrieden zu stellen. Dass sowohl Schliesse als auch Band (ebenfalls 904L) nun gänzlich massiv gefertigt sind, hat funktional keinerlei Vorteile, wertet die Uhr aber nochmals auf (und sollte definitiv all jene Kritiker besänftigen, die bislang über die etwas klapprige, aber zuverlässige Vorgängerin geflucht haben).
Eine weitere optische Veränderung betrifft die Lünette, die mehr Schutz vor Ausbleichen und Kratzern bieten soll: Bei der neu entwickelten Keramik-Einlage hat Rolex seine jüngere Materialwahl (GMT-Master II) auch hier konsequent weitergezogen: Im Vergleich zur traditionellen Aluminium-Einlage sicher ein optischer Schritt nach vorne, gleichzeitig aber auch ein potentiell schmerzhafter Posten auf der Ersatzteilliste, sollte die Rolex-intern mit Cerachrom bezeichnete Einlage wider Erwarten doch mal brechen oder verkratzen… nichtsdestotrotz: Optisch und haptisch ist die in 120 Schritten drehbare, Kugel-gefederte Lünette mehr als eine Wucht, und dank der durchgehenden Minuteneinteilung dürfte nun auch die Normen-Fraktion zufrieden sein. Die eingefrästen Markierungen sind übrigens allesamt mit einer Platinbeschichtung ausgeführt.
Deepsea
Während die Deep- resp. eben Tiefsee eigentlich schon ab 800 Meter unter dem Meeresspiegel beginnt, spricht man bei der Region von 1000 bis 4000 Metern Tiefe vom sogenannten Bathypelagial – hier herrscht bei völliger Abwesenheit von Licht ein rund 400mal höherer Druck als an der Oberfläche, und die Temperatur nähert sich so langsam aber sicher dem Gefrierpunkt. Sollten Sie also jemals beim Small-Talk auf Ihre Uhr angesprochen werden, wissen Sie nun, was sie (im Vergleich zu Ihnen) auszuhalten vermag.
Kein angenehmer, aber ein ungemein faszinierender Ort also, den Rolex als maximale Reisedestination seines jüngsten Tauchermodells erkoren hat: Mit einer offiziell garantierten Wasserdichtheit von 3900 Metern ist die Weiterentwicklung der Sea-Dweller nicht nur die in diesem Bereich widerstandsfähigste seriengefertigte Taucheruhr mit mechanischem Werk (zumindest in ihrem Geburtsjahr 2008), sie führt auch die Tradition der ursprünglichen Deepsea von Rolex weiter: Die im Jahr 1952 angeschobene Entwicklung einer Uhr für die grössten Tiefen dieses Planeten mündete in der legendären Rolex Deep-Sea Special (mehr dazu hier) – der ersten und nach wie vor einzigen Uhr, die auf die tatsächliche Tiefe von 10916 Meter gekommen ist. Und vergleicht man deren Bauweise mit der aktuellen Deepsea, ist man froh, dass es nur bei der verdienten namentlichen Verwandtschaft geblieben ist.
Somit bildet die Sea-Dweller Deepsea nichts Anderes, als die vollendete Summe aller Rolex-typischen Elemente: einmalige Historie und praxistaugliche Innovation gepaart mit der geglückten Evolution eines der wohl etabliertesten Uhrendesigns überhaupt. Oder mit anderen Worten: Die Uhr ist durch und durch eine Sea-Dweller der nächsten Generation.
Unabhängig davon, ob man die Uhr (oder den Hersteller) nun mag oder nicht: Die Deepsea ist ein ebenso bemerkenswerter wie beachtlicher Technologieträger, der auf beeindruckende Art und Weise demonstriert, dass Rolex auch heute noch (oder wieder) in der Lage ist, nicht nur punkto Bekanntheit den Takt anzugeben. Dass die Uhr polarisiert, liegt in der Natur der Sache: Keine Rolex, die nicht unweigerlich zu hitzigen Diskussionen führt, und auch mit der Deepsea wird man problemlos einen gehörigen Krieg zwischen den Lagern auslösen. Nichtsdestotrotz sollte genügend Objektivität vorhanden sein, um anzuerkennen, dass derzeit kein anderes Produkt in dieser Perfektion zu leisten vermag, was eine mechanische Taucheruhr eben ausmacht: Ein Uhrwerk möglichst zuverlässig vor Wasser zu schützen – auch wenn die gebotene Tiefe natürlich mehr ideellen denn praktischen Nutzen bietet.
Werksführung
Mit dem hauseigenen Kaliber 3135 von Rolex sollte aber selbst jenen gedient sein, die nebst Hülle auch die inneren Werte einer Uhr zu schätzen wissen: Das für Zuverlässigkeit und Langlebigkeit berühmte COSC-zertifizierte Inhouse-Werk muss an dieser Stelle weder gross vorgestellt, noch beurteilt werden.
Mit einem Vorbehalt: Das mechanische Herz der Sea-Dweller wurde zwischenzeitlich ebenfalls weiterentwickelt: die blaue Parachrom-Spirale kommt nun auch in der hier vorgestellten Ref. 116660 zum Einsatz. – Mit welchem Effekt, bleibt abzuwarten.
Einen anderen Effekt kann man aber schon jetzt beschreiben:
Lobgesang auf eine Skulptur
Mit ihrer Mischung aus hochglanzpoliertem Äusseren, dem matten Zifferblatt, der glatten Keramik-Lünette und dem fast schon nahtlos eingepassten Saphirglas dürfte kaum eine Stahl-Rolex so augenscheinlich auffällig sein wie die Deepsea. Je nach Lichteinfall präsentiert sich hier ein ganzes Spektrum an Stimmungen zwischen Anthrazit und Schwarz, das den Betrachter nicht so schnell wieder loslassen wird.
Die Haptik ist nicht nur für Rolex-Verhältnisse überdurchschnittlich, und der (mit etwas zu grossen Spaltmassen montierte) Drehring lässt sich (etwas zu leichtgängig) auf eine Weise bewegen, die wenig mit dem zu tun hat, was man bislang in Händen halten konnte. Die Schliesse ist eine Klasse für sich und die gesamte Verarbeitung durchs Band weg auf einem Niveau, das man sich von einer Sportuhr dieser Klasse erhofft hatte. Und selbst bei rund 200g Gewicht lässt sich mit der Uhr sehr bequem ein Handgelenk krönen.
Kurz gesagt: Mit einer bislang seltenen Kombination aus Hightech und Klassik hat es Rolex beneidenswert gut geschafft, eine Uhr zu kreieren, die es wahrlich versteht, wieder aus der Masse ihrer Nachahmer herauszuragen.
Aber bei aller Faszination und Respekt gibt es natürlich auch ein paar Schattenseiten, die hier erwähnt werden sollen:
Genug Lesestoff für den Abstieg
Jacques Piccard und Don Walsh benötigten für ihre Tauchfahrt mit der Trieste (und somit der Deep-Sea Special) 4 Stunden und 43 Minuten, um auf Rekordtiefe von 10916 Meter zu kommen. Und vermutlich wären sie nicht abgeneigt gewesen, schon damals die aktuelle Deepsea mit an Bord gehabt zu haben: Mit (von oben nach unten) „Original Gas Escape Valve Oyster Perpetual Date Deepsea Sea-Dweller 12800ft = 3900m Superlative Chronometer Officially Certified Swiss Made Ring Lock System“ hat es Rolex nämlich tatsächlich geschafft, die Zifferblattseite der Uhr mit einem Text zu ver(un)zieren, der exakt fünfmal so lang ist, wie Hemingway für seine kürzeste Geschichte benötigte. Und auch wenn nie ganz geklärt werden kann, in welchem Tiefenrausch sich der verantwortliche Designer befunden haben muss, so kann vermutlich einstimmig geurteilt werden, dass das so nicht nötig gewesen wäre.
Immerhin: Im Vergleich zu Nahaufnahmen präsentiert sich die Bleiwüste in der Realität bedeutend weniger schlimm, auch wenn die Bezeichnung „Original Gas Valve“ wohl in jedem Habitat sinnbefreit bleiben wird.
Weiter geht’s: Das mit 21mm beim Bandanstoss schon eher schmale Band (98210) hätte durchaus etwas breiter zur Schliesse hin ausfallen können – auch wenn sich die ganze Sache in der Realität ebenfalls viel weniger schlimm erweist als auf Bildern, ein bisserl mehr hätte es ruhig sein dürfen (obschon dann der Tragekomfort mit grösster Wahrscheinlichkeit gelitten hätte). Weniger hätte hingegen den Bandanstössen nicht geschadet: Weshalb diese etwas über die Oberkante der Hörner herausragen müssen, bleibt eindeutig unerklärlich.
Die Box – auch wenn hochwertig ausgeführt – ist in etwa das Unpassendste, was je mit einer Taucheruhr ausgeliefert wurde. Hier wurde eine grosse und vielleicht auch letzte Chance vertan, der Deepsea eine gehörige Portion ernstgemeinter Tool-Attribute mitzugeben, die man mit dem Pflichtenheft zum Ziel hatte. Vergleicht man das Ganze mit der Mitgift der alten Sea-Dweller, kann man Schraubenzieher & Co. wirklich nur noch nachtrauern.
Immerhin, wegen der Box wird sich niemand für oder gegen einen Kauf entscheiden.
Aber genug Dampf abgelassen:
Hoch oder runter?
Etwas weniger klar wird’s mit dem Urteil beim Heliumventil (resp. dem original Gas-Ventil): Im Prinzip und besonders angesichts der konstruktiven Leistung bei der Uhr ist dieses Feature schon lange überflüssig geworden. Andrerseits gehört genau dieses Element historisch eben unbedingt an eine Sea-Dweller.
Gemischte Gefühle auch bei der Grösse: Mit 43mm ist die Uhr zwar nach wie vor im tragbaren Bereich, nichtsdestotrotz gewinnt die Deepsea u.a. auch in Kombination mit knapp 18mm Höhe nochmals massiv an Präsenz, die nur noch wenig mit der alten Toolwatch zu tun hat. Aber eben: Käufer eines Supersportwagens sollten sich nachher auch nicht über einen zu kleinen Kofferraum beklagen… Somit wird auch in diesem Punkt der interessierte Leser nicht drumrum kommen, sein eigenes Urteil in freier Wildbahn zu fällen.
Der Blick in die Kristallkugel
Wer jetzt das Gefühl hat, die Sache mit der freien Wildbahn könnte sich ähnlich schwierig gestalten, wie ein Tauchgang mit einem Walhai, kann aufatmen: Auch wenn der Fachhandel nicht genug betonen kann, wie lange sich die Wartelisten derzeit gestalten würden, ist die Verfügbarkeit seit Auslieferungsstart im September 2008 relativ schnell auf ein erträgliches Mass gestiegen.
Einerseits „dank“ der sich abkühlenden Wirtschaftslage, andrerseits weil hier dann doch ein Grössen- und Preislevel erreicht wurde, das den Kreis potentieller Käufer und Spekulanten eher einschränkt. Insofern dürfte es spannend werden, wie sich die Zukunft der Deepsea gestalten wird: Als Massenhersteller hat Rolex hier (wie gewohnt) ein Sea-Dweller-Modell im Sortiment, das von Natur aus nicht unbedingt zum Massenartikel taugt.
Gleichzeitig dürfte damit aber immerhin gewährleistet sein, dass die Deepsea auch noch die nächsten 50 Jahre im Programm bleibt – sei es alleine schon, um die Entwicklungskosten irgendwann wieder reinzuholen…
Die Wiederherstellung der natürlichen Unterwasserweltordnung
Wirft man einen Blick auf die vergangenen 56 Jahre in der Geschichte der Taucheruhr, so können die beiden Modelle von Blancpain und Rolex zweifellos als Anfang und Spitze der Evolution bezeichnet werden. Beide Modelle wurden in schier unendlicher Vielfalt interpretiert oder kopiert. Und beide haben das Feld viel zu lange der Konkurrenz überlassen.
Nun scheint es, sei die natürliche Ordnung definitiv wieder hergestellt: Blancpains 2007 lancierte 50 Fathoms nimmt hierbei die Rolle der zeitlos klassischen Ikone ein (die Schöne), während sich die 2008 lancierte Sea-Dweller nun wieder den verdienten Führungsplatz im Bereich Extrem-Technologie zurückgeholt hat (das Biest).
Dass sich in dieser fast schon perfekten Koexistenz mittlerweile beide auf einem preislichen Niveau befinden, das herzlich wenig mit der Kaufkraft oder dem Verwendungszweck der ursprünglichen Zielgruppe zu tun hat, ist hierbei wohl eher auf einen generellen, schmerzhaften Trend der hiesigen Uhrenindustrie zurückzuführen, als auf den jeweiligen Einzelfall.
Vergleicht man die Sea-Dweller Deepsea indes mit anderen Extrem-Uhren, wird man feststellen, dass sich die Rolex selbst bei rund 50% Preisaufschlag (dafür über 200% erhöhter Tiefenangabe) im Vergleich zur kleinen Schwester noch relativ fair verhält. Und was man definitiv nicht ignorieren kann: Es ist immer noch die weltweit bedeutendste Marke im Luxussegment, es ist immer noch eines der dankbarsten Dreizeiger-Werke im Markt, und es ist definitiv eine, wenn nicht sogar die innovativste praktikable Lösung für Extrem-Tiefen, bei der nun auch die Details mehrheitlich stimmen. Dennoch ist sie in ihrem Wesen unverkennbar eine Sea-Dweller geblieben.
Fazit
Es gibt überraschend wenige Gründe, die gegen ein Treffen mit der Deepsea in freier Wildbahn sprechen. Und wer sich selbst in Zeiten einer erneuten Wirtschaftskrise rund 200 Gramm puren Luxus gönnen kann und möchte, dürfte mit der fast ausnahmslos gelungenen Reinkarnation eines absoluten Klassikers vermutlich besser bedient sein, als bei manch anderer Taucheruhren-Neuheit der letzten und kommenden Jahre.
Und gerade zum Untertauchen bis zum nächsten Aufschwung könnte das Biest aus Genf die perfekte Begleiterin sein – ausser natürlich, der Untergetauchte lege Wert auf maximale Diskretion…
UPDATE (2018): Zur Baselworld 2018 hat Rolex beide mittlerweile verfügbaren Versionen der Deepsea leicht überarbeitet (Gehäuse, Band und Werk). Dieser Artikel berücksichtigt diesen Wechsel nicht.
Technische Daten (2008)
Hersteller: Rolex
Modell: Oyster Perpetual Sea-Dweller DEEPSEA
Referenz-Nummer: 116660
Lancierungsjahr: 2008
Funktion: Sekunden-, Minuten-, Stunden- und Datums-Anzeige
Gehäuse: Edelstahl (904L), Gehäuseboden aus Titan (Grad 5), fixiert durch einen Edelstahlring, integriertes Heliumventil bei 9 Uhr aus Edelstahl (aktiviert ab 2.5 Bar Differenz zwischen Gehäuse-Innen- und -Aussendruck), patentierte dreiteilige Gehäusekonstruktion „Ring Lock“, verschraubte Triplock-Krone
Zifferblatt: Schwarz (matt) mit aufgesetzten Stunden-Indexen (Weissgold), blaue SL-Leuchtmasse
Gehäuse-Durchmesser: 43 mm
Gehäuse-Höhe: 17.68 mm
Gewicht (inkl. sämtlicher Bandglieder): ca. 220 g
Wasserdichtheit: 3900 Meter
Glas: bombiertes Saphirglas (ca. 5.5 mm), nicht entspiegelt
Drehring: einseitig rastender Stahlring (120 Schritte) mit schwarzer Keramik-Einlage (Cerachrom), auf drei gefederten Kugeln geführt, Leuchtmarkierung hinter Spahirglas
Werk: Rolex Kal. 3135, COSC-zertifiziert, automatischer Aufzug, ca. 48h bis 55h Gangautonomie, blaue Parachrom-Spirale, 28.5 mm Durchmesser, 6mm Höhe, 28‘800 A/h, 31 Rubine
Band: Edelstahl (904L) massive Bandglieder, Fliplock-Verlängerung, zus. Glidelock-Schliesse (Verlängerungssystem, erweiterbar in 1.8 mm Schritten auf max. 18 mm)
Bandanstossbreite: 21 mm
Lieferumfang: Box, Überkarton, Garantie-Broschüre, Garantiekarte und -Mappe, Anleitung
Preis (2008): CHF 9700.- / EUR 7100.-
Dieser Artikel wurde erstmals im Jahr 2009 veröffentlicht.